Juri Trifonow

 

Юрий Валентинович Трифонов

 

 

„…nichts ist furchtbarer, als seinen  Ort

und seine Zeit  zu erkennen…“

 

 

„…Wieder taucht das Problem auf:

Die Angst, zu sehen. Er sieht alles klar –

und sieht gar nichts, denn der geheime

Mechanismus der Angst macht die Augen

blind wie der graue Star…“

 

Aus "ZEIT und ORT - 1980"

 

Das Haus an der Moskwa

 

Дом на набережной

 

Geht man vom Moskauer Roten Platz

an der Basilius Katherale vorbei

zum Moskwa-Ufer, trifft man rechts

auf die Kameny Brücke.

Auf der anderen Seite der Brücke

liegt "Das Haus an der Moskwa",

der riesige Wohnkomplex aus den

frühen dreissiger Jahen.

Hier wuchs der sowjetische Autor

Juri Valentinowitsch Trifonow

[1925 - 1981]

als Sohn einer bolschewistischen

Funktionärsfamilie auf.

 

 

Juri Trifonows Vater

 

Valentin Andrejewitsch Trifonow

 

 

Erinnerungstafel für Juri Trifonow

am Haus an der Moskwa.

Hier befindet sich heute ein

Museum. Es wird geleitet

von Juri Trifonows Witwe Olga.

 

 

Juri und Olga Romanowna Trifonowa

 

Eingang zum Museum

des Hauses an der Moskwa

Der DDR-Titel war:

"Das Haus an der Uferstrasse"

 

Juri Trifonow:

„In diesem Haus habe ich einmal gewohnt. Nein, dieses Haus ist längst gestorben und verschwunden, ich habe in einem anderen gewohnt, aber in diesen gewaltigen dunkelgrauen Betonmauern, die wie eine Festung sind. Das Haus überragte die zweigeschossigen Häuser, kleinen Villen, Kirchen, Glockentürme, alten Fabriken, Uferstraßen mit Granitbrüstung, und an beiden Seiten floss die Moskwa vorbei. Es stand auf einer Insel, war wie ein schwerfälliges, aberwitziges Schiff ohne Masten, Schornsteine und Steuerrad, ein riesiger Kasten, eine mit Menschen vollgestopfte Arche, bereit, davonzuschwimmen. Wohin? Niemand wusste das, niemand hatte eine Ahnung. Den Leuten, die auf der Straße an den Mauern vorbeigingen, in denen Hunderte von winzigen Zitadellenfenstern leuchteten, erschien das Haus unerschütterlich und ewig wie ein Feld: nach dreißig Jahren hat sich das Dunkelgrau der Mauern nicht verändert.“

Auf einem der vier Innenhöfe

in den Dreissiger Jahren

 

 Das Haus an der Moskwa


Das Haus an der Uferstraße


Dass Bücher sich, genau wie ihre Leser, mit den Jahren verändern, ist kein großes Geheimnis. Wie sehr sie sich gelegentlich verändern, verblüfft. Jurij Trifonows Roman "Das Haus an der Moskwa" ist so ein Fall. Das Buch erschien 1976 in der Sowjetunion, im Jahr darauf in der BRD und 1983 auch in der DDR. Schon diese durchaus ungewöhnliche Publikationsgeschichte deutet an, dass der Autor Trifonow, geboren 1925, gestorben 1981, einen Sonderstatus innehatte. Mitte der 70er-Jahre war Trifonow der wohl kontroverseste, vielleicht auch der Beste der zur offiziellen Sowjetliteratur zählenden Schriftsteller. Heinrich Böll war ein Fan, die Zensoren in Moskau und Ostberlin wohl weniger. Aber Trifonow wurde gedruckt, wenn auch gelegentlich mit Verzögerung.

"Das Haus an der Moskwa" war bei seinem Erscheinen sowohl in Moskau wie im Westen eine Sensation, weil darin mit erstaunlicher Offenheit und Klarheit im moralischen Urteil das Leben von Menschen beschrieben wird, die zur sowjetischen Nomenklatura gehörten. Sowjetischen Lesern reichte der Titel des Buches, um das zu verstehen. Das Haus an der Uferstraße, wie das Buch im Original heißt, ist im Grunde kein Haus, sondern ein riesiger Gebäudekomplex mit 500 Wohnungen, eigenem Kino, Bank, Kindergarten, Kantine, Sporthalle, Ambulanz und Supermarkt. Ende der 20er-Jahre schräg gegenüber vom Kreml für Regierungsmitglieder und andere Bessergestellte erbaut, wurde das Haus am Ufer schon bald für zweierlei notorisch: Für den Luxus der dortigen Wohnungen und für die Geschwindigkeit, mit der viele der Bewohner aus diesem Luxus in die Barbarei der Lager gelangten.

Wadim Glebow wächst im Schatten des grauen Monstergebäudes auf, buchstäblich und metaphorisch. Seine Familie lebt in den 30er-Jahren in einer der kleinen Gassen, die damals in diesem Teil Moskaus noch existierten. Einige seiner Schulfreunde wohnen im Haus an der Moskwa. Zu Beginn des Buches begegnen wir dem alt gewordenen Glebow im Jahr 1972. Gerade ist er einem dieser Schulfreunde zufällig wiederbegegnet, beginnt sich zu erinnern. Doch zunächst stellt Trifonow uns diesen Glebow des Jahres 1972 vor, erbarmungslos:

Vor fast einem Vierteljahrhundert, als Wadim Alexandrowitsch Glebow weder Halbglatze noch Leibesfülle besaß, noch einen Busen, wie Frauen, noch dicke Schenkel, noch einen großen Bauch, noch abfallende Schultern ...

Langsam und methodisch arbeitet sich Trifonow vor, vom körperlichen zum psychischen Verfall:

... als er keine Furcht davor empfand, die Moskwa an der breitesten Stelle zu durchschwimmen ...

Schließlich das Urteil

... als er, in Schlaflosigkeit und kläglicher jungenhafter Ohnmacht, von all jenen Dingen erst noch träumte, die ihm später zufielen, ohne Freude zu bringen, weil sie ihm so viele Kräfte und jenes Unersetzliche geraubt hatten, das 'Leben' genannt wird.

Den Rest des Romans benutzt Trifonow, um zu erzählen, wie es dazu gekommen ist. Er erzählt, wie der Streber Glebow die Chancen des sowjetischen Bildungssystems nutzt, um weit nach oben zu kommen. Und er erzählt von dem Preis, den Glebow zahlen muss. Der Preis ist Verrat, mehrfacher Verrat. Als Kind verrät Glebow zwei Freunde, die bei einer Prügelei dabei waren, die er selbst angestiftet hat. Als junger Erwachsener verrät er seinen Doktor- und Schwiegervater, den alten Revolutionär Gantschuk, und schließlich verrät er sich selbst. Der Grund ist immer derselbe:

Und das Skelett der menschlichen Handlungen tritt hervor, ihr beinerner Umriss: der Umriss der Angst. Sie rollten ein Fass auf Gantschuk. Das war alles. Sonst war nichts. Sonst war nur die Angst, eine lächerliche, blinde Angst, formlos wie ein in einem dunklen Kellerraum geborenes Wesen, Angst unbekannt wovor, Angst vor Zuwiderhandlung. Und das saß so tief.

"Das Haus an der Moskwa" mag in der Sowjetunion der Stalin-, Chruschtschow- und Breschnewjahre spielen. Doch das Buch handelt, wie alle großen Romane der Weltliteratur, von universellen Themen. Das ist die große Überraschung, die jeden erwartet, der das Buch 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion liest. Glebow und sein Schwiegervater, der alte Revolutionär Gantschuk leben fantastisch detailliert beschriebene sowjetische Leben. Wer Trifonow liest, begreift viel über die Sowjetunion und ihre Geschichte. Aber den entscheidenden Konflikt, den moralischen Abgrund, der Glebow und Gantschuk trennt, all das kennt jeder erwachsene Mensch aus dem eigenen Leben oder zumindest aus dem Tatort: Glebow verrät Gantschuk und die Liebe seines Lebens, weil er Angst um seine Karriere hat.

Mit Stalinismus hat das, abgesehen von einigen Details in der Ausführung, wenig zu tun. "Das Haus an der Moskwa" ist ein Buch über das Leben in der Metropole Moskau, es ist ein Buch über die Liebe und den Verrat, es ist ein Buch über den Preis für das bequeme Leben und es ist nebenbei auch ein Buch über die sowjetische Geschichte. Was es mit Sicherheit nicht ist, ist eine Anklage gegen die Sowjetunion. Und genau darin liegt der Grund dafür, dass Trifonows Roman so wenig altert. Die meisten der vielen regimekritischen, aufklärerischen, anklägerischen Bücher aus der und über die Sowjetunion sind lange vergessen.

Trifonow aber, der gewiss nie etwas beschönigt hat, sich aber eben auch nie in die Schlachten des Kalten Krieges einspannen ließ, Trifonow gilt auch 30 Jahre nach seinem Tod als Klassiker der sowjetischen Literatur. Er war und bleibt der Autor der städtischen Mittelklasse Moskaus, Leningrads, Kiews, Charkows, Odessas, Alma-Atas, Swerdlowsks und Nowosibirisks. Der Autor jener gebildeten Schichten, jener Millionen sowjetischer Ingenieure, Lehrer, Architekten, Ärzte, Wissenschaftler und Künstler, für die es selbstverständlich war, dicke Literaturzeitschriften im Abonnement zu beziehen, Klassikerausgaben nicht nur im Schrank stehen, sondern auch gelesen zu haben, sich für europäisches Kino und europäische Musik zu interessieren. Niemand beschrieb das Leben dieser Menschen besser als Trifonow, nirgendwo fanden diese Menschen sich mehr wieder, als in seinen Moskauer Novellen und Romanen "Der Tausch", "Langer Abschied" und eben in "Das Haus an der Moskwa". Trifonows ungebrochene Beliebtheit deutet an, dass sich im Leben dieser Menschen trotz aller sozialen Veränderungen der letzten 20 Jahre möglicherweise weniger verändert hat, als man meinen könnte.

Etwas anderes ist ohnehin offensichtlich: Trifonow hat keinen Nachfolger gefunden. Weder Wiktor Jerofejew noch Wiktor Pelewin und schon gar nicht Wladimir Sorokin sind willens und in der Lage, das reale Leben in Moskau in realistischer Prosa abzubilden. Wahrscheinlich deshalb, weil das viel schwerer ist, als der postmoderne Budenzauber, mit dem die Schriftsteller der Generation nach Trifonow ihrem Publikum seit 20 Jahren den Verstand vernebeln.

Juri Trifonow: "Das Haus an der Moskwa". Aus dem Russischen von Alexander Kaempfe. Süddeutsche Zeitung Bibliothek, Serie: Metropolen, Band 15, 185 Seiten.


von Uli Hufen

Im Museum des Hauses an der Moskwa

 ... Trifonows Roman "Das Verschwinden" spielt in dem berüchtigten, von Boris Iofan erbauten, Haus an der Moskwa. In den Terrorjahren Stalins wurde das riesige Haus zu einer tödlichen Menschenfalle. Juri Trifonows Vater und sein Bruder, hohe bolschewistische Funktionäre, wurden 1938 erschossen. Seine Mutter verschwand im Straflager. Trifonow wuchs bei seiner Großmutter, einer glühenden Stalinistin, auf, die sich von ihren Söhnen losgesagt hatte. Die Novelle erzählt die Geschichte einer Familie Bajukow, bis zum Verschwinden des Vaters und seines Onkels.... Das Buch blieb leider ein Fragment.

Juri Trifonows Vater Valentin Andrejewitsch

heisst in DAS VERSCHWINDEN

Nikolaj  Grigorjewitsch Bajukow

Des Vaters Bruder

Jewgeni Andrejewitsch Trifonow

ist in DAS VERSCHWINDEN

Onkel Mischa.

 Juri Trifonow

hat den Felsblock der Stalinzeit

wie ein Bergmann mit dem

Preßlufthammer unermüdlich

aufgebrochen" Christa Wolf

 

"Die genaue und aufrichtige Dar-

stellung, wie Juri Trifonow als Junge,

seine Eltern und deren Genossen

die für sie unerwarteten tragischen

Ereignisse der Jahre 1937/38 

unmittelbar erlebten, wie sie

spontan darauf reagierten und

wie sie diese zu erfassen

versuchten...

 

Hier wird auch nach der Mitschuld

der Opfer selbst gefragt.

 

Was haben sie übersehen, was falsch

eingeschätzt, nolens volens gefördert

und warum?" Ralf Schröder

_______________________________________________

 

Im "Haus an der Uferstrasse"

leben Opfer und Täter Tür an Tür:

 

Sie speisen in derselben Kantine, lassen

in derselben Wäscherei ihre Hemden reinigen.

 

Ihre Kinder spielen im selben Innenhof - und

spüren, dass etwas Schreckliche vor sich geht.

"Sprecht mit niemandem über irgendwas", hat

Vater Michailow seiner Tochter

Margarita eingeschärft.

 

Ihre Freundin Maja, Tochter des Volkskommissars

für das Eisenbahnwesen Lasar Kaganowitsch, flüstert 

ihr zu: "Das Haus ist voller Spitzel." Der Portier an der

Treppe, der die Gäste in ein dickes Buch einträgt,

der Fahrstuhlwärter, der jeden bis zur

Wohnungstür begleitet.

 

Es gibt kein Wohngebäude in Moskau, in dem 

Utopie und Schrecken der Stalinzeit bis heute

so deutlich zu spüren sind.

 

Der 1931 fertiggestellte Komplex galt

als Versuchslabor einer kommunistischen

Sozialgemeinschaft.

 

Die Führungsriege der Partei, des Militärs und

der Regierung zog damals in das Bonzenbollwerk

ein. Und auch Stalin selbst ging im"Haus am

Ufer" ein und aus, um seine Tochter

Swetlana zu besuchen.

 

Dann kommt die Zeit, in der die politisch-soziale

Paranoia angesichts eines vermeintlich überall

lauernden Klassen-feinds den Höhepunkt er-

reicht.Der Bau mit den doppelten Wänden,

den kontrollierbaren Treppenaufgängen und

den abgehörten Telefonleitungen entpuppt 

sich als Menschenfalle. Von Anfang an war

alles auf Überwachung angelegt.

 

So wird stets beobachtet,wie die Frau des

Marshalls Michail Tuchatschewski in Lederjacke

über den Hof spaziert, um im Kellerauf dem

Schießstand zu trainieren.

 

 

Oder wie der Volkskommissar für innere

Angelegenheiten und Chef des Geheimdienstes,

Nikolai Jeschow, betrunken in Richtung Aufgang

Nummer acht wankt. Seine Saufexzesse und sein

ausschweifendes Sexualleben machen

ihn angreifbar.

 

1940 wird auch er hingerichtet - von seinen

eigenen Männern.Ende des Jahres 1938 steht

jede fünfte Wohnung leer. Von einstmals 2745

Bewohnern verhaftet der Geheimdienst

zwischen 1934 und 1953 insgesamt  887. 

Die Hälfte wird erschossen.

 

 Nachweislich 125 Mieter verscharrten die

Todesschwadronen in Massengräbern im

Süden der Stadt. Weitere 114 verbrannten

sie und verstreuten ihre Asche unweit des

Krematoriums beim Donskoi-Kloster.

 

Die Spuren von 532 Hausbewohnern sind

im Aktendschungel nicht zu verfolgen.

 

"Wer aus diesem Haus auszog, hörte auf

zu existieren", schreibt Jurij Trifonow.

Auch sein Vater wurde dort verhaftet.

Alles, was von einem Leben übrig bleibt,

ist eine Liste beschlagnahmter Gegen-

stände, die Historiker in archivierten

Häftlings-akten finden.

 

SIMONE SCHLINDWEIN

Die Moskauer Metrostation Lubjanka

LUBJANKA PLATZ

 

Hauptquartier des Geheimdienstes NKWD

 

Hierher wurden  die Verhafteten gebracht.

 

Heute sitzt im Gebäudekomplex

einerehemaligen Versicherung

der russische Geheimdienst FSB.

 

Das Denkmal davor

für Feliks Dzierzynski

Organisator des ersten

sowjetischen Geheim-

dienstes TSCHEKA

wurde 1990 beseitigt.

Typen des Geheimdienstes NKWD

 

Verhaftete kommen

aus dem Transporter

"Schwarzer Rabe".

 

Sie gehen in Untersuchungshaft.

NKWD - Uniform

Untersuchungsgefängnis

BUTYRKA - Moskau

Im Inneren des Butyrka-Gefängnisses

 

Auf der linken Wand steht: „Bereinige dein Gewissen,

vergiss nicht, dass früher oder später das Verbrechen

aufgeklärt wird“. Das Butyrka-Gefängnis gehört zu den

ältesten Moskauer Gefängnissen. Nach der

Oktoberrevolution war das Gebäude sowohl Unter-

suchungsgefängnis als auch Ausgangs-

punkt für die Deportation in die Lager der

GULAG >Button:Gulag.<

 

„Die Zelle war bis an den Rand mit

Menschen vollgestopft. Statt der

normal üblichen 20 Mann befanden

sich in dieser Zelle 80 Personen.

 

Sie lagen auf dem blanken,

kalten Zementboden, jeweils

mit den Füßen am Kopfende des

anderen, und wenn einer sich

umdrehte, dann mussten sich

praktisch alle Zellenbewohner

mit umdrehen. Sofern man den

Kübel für die Notdurft aufsuchen

musste, verlangte einem das eine

ziemlich große Virtuosität ab,

um nicht auf irgendjemandes

Bein oder Kopf zu treten.

 

Die drückende Schwüle, die

stickige Luft versetzten viele in

Ohnmachtzustände.“

 

Quelle: Sammlung „Memorial“, Krasnojarsk

Das schlimmste Untersuchungsgefängnis

in den Jahren Stalins war das

Moskauer LEFORTOWO GEFÄNGNIS,

eine "Folterhöhle".

 Plakattext:

 

"Rotten wir die Spione

 und Saboteure,

die trotzkistisch -

bucharinschen Agenten aus."

 

[Plakat von Sergej Igumow 1937]

_________________

 

Was  1937, als Abschluss eines Jahrzehnts

unaufhörlicher Säuberungen, in Angriff

genommen wurde, nennt Karl Schlögel

in seinem Buch „Terror und Traum – Moskau 1937“die „Endlösung“ der Klassenfrage.

Eine „Säuberungsarbeit“, der vorsichtig

geschätzt zwei Millionen Menschen zum Opfer

fielen, davon 800.000 durch Erschießen, die

anderen infolge der Haftbedingungen.

 

Für alles, was im Lande schief ging, wurden Schuldige gefunden: Zug- oder Bergwerksunfälle, fehlendes Brot, kaputte Traktoren und Produktionsausfälle, Missernten

und Seuchen. Dies sind die nur schwer zu lesenden Kapitel. Seitenweise wird aufgezählt, etwa (von mir

nicht immer wörtlich zitiert):

 

Von 31 Abteilungsleitern 28 erschossen, einer vergiftet, einer begeht Selbstmord,einer überlebt, tausende von Armeekommandeuren erschossen, der neue Direktor war zwei Monate im Amt, dann wurde auch er erschos- sen, sein Nachfolger begeht nach drei Wochen Selbst-mord, der Regisseur konnte seinen Film nicht fertig drehen, er wurde erschossen, Ehefrau und zwei

Töchter wurden drei Monate später erschossen.

 

Tagelöhner, Bauern, Handwerker, Wissenschaftler, Ärzte, Architekten, einfache Parteimitglieder, Volkskommissare (=Minister), ZK- und Politbüro-angehörige wurden der fantastischsten Vergehen beschuldigt, noch im Gericht oder in Gebäuden

in und um Moskau erschossen und in Massen-gräbern verscharrt.

 

Dem NKWD wurden Verhaftungsquoten vorgegeben.

Es gab Anstrengungen, diese Planziffern zu über-

treffen. Für die Killerkommandos gab es zur Beloh-

nung eimerweise Wodka …Auch die NKWD-Führungskader, Gefängnisleitungen und sogar die Erschießungs-kommandos waren angeblich mitTrotzkisten, Saboteuren und Spionen durch-

setzt und wurden gnadenlos dezimiert, teilweise

unter tätigerMithilfe hoher Parteikader und zeit-

gleich mit der Feier zum zwanzigjährigen Beste-

hen des Geheimdienstes im Bolschoi-Theaster.

 

Besonders traf es die ausländischen Kommu-

nisten, die sich nach Moskau geflüchtet hatten, ebenso jüdische Kommunisten sowie Ange-

hörige der nichtrussischen Ethnien im

Sowjetreich.

 

Man kann diese Seiten nur mit Mühe lesen.

Schlögel, wie andere vor ihm, etwa Koestler

oder Ryklin, hellt das Mysterium der reuigen

Angeklagten in den Schauprozessen auf. Am prominentesten etwa Politbüromitglied Bucharin,

„Lenins Liebling“, der sichmit einem Brief von

Stalin verabschiedet. Bucharin widerspricht zwar

einer Mitschuld an den detailliert vorgetragenen Verbrechen, die ihm angelastet werden, gibt aber

eine Gesamtschuld zu. Er sieht in seiner Hinrich-

tung noch den Sieg des proletarischen Staates

und in seiner Selbstentlarvung die Überlegenheit kommunistischen Denkens.

 

Die lange Isolationshaft habe ihn zu diesem Klärungsprozess geführt.

Memorial Kommunarka in Moskau

Hier wurden 123 Bewohner

des Hauses an der Moskwa erschossen

Gedenkstätte Butowo bei Moskau

Hier wurden viele Ermordete

namenlos verscharrt

Die Asche von 114 ehemaligen Bewohnern

des "Hauses an der Moskwa" wurde unweit

des Krematoriums auf dem Moskauer

DONSKOI-FRIEDHOF verstreut.

Das Haus an der Uferstraße

Moskau 1953

Die ersten Fotos eines

französischen Fotografen,

die der "Westen" zum ersten

Male  seit 10 Jahren zu sehen bekam.

 

 Der Mensch ist ein Faden,

der  sich durch die Zeit zieht,

der feinste Nerv der Geschichte,

durch den man vieles beurteilen,

anmerken und bestimmen kann…

[suche] den Faden, der das

Vergangene mit der noch

ferneren Vergangenheit

und mit der Zukunft

verbindet.

                               

Das gibt es also noch: ein neues Buch wird aufgeschlagen, und nach drei, vier Seiten bewegt man sich in ihm wie in einer alten Heimat. Denn Jurij Trifonow hat die Serie seiner Moskauer Erzählungen aus immer ähnlichem, man darf schon sagen, aus dem immer gleichen Stoff geschrieben. Wer also die beiden auf (west ) deutsch schon vorliegenden Geschichten („Der Tausch" und „Langer Abschied"; ZEIT vom 4. Juni 1976) gelesen hat, der läuft in jeder neuen in lauter Wiedersehen. Immer wieder treten Familienclans gegeneinander an, werden Schwiegermütter zum Problem, tote oder sterbende Väter zu Denkmälern der sowjetischen Geschichte, auf morschen Datschen oder der sommerlichen Krim brütet die Sonne, alles strampelt und watet in den unsichtbaren Netzen von Beziehungen und Intrigen, Dienstreisen werden zu Glücks- und Fluchtfahrten, Auslandsreisen verklären sich zu Gnaden- oder Sündenerfahrungen .

 

Was für ein Dschungel an Fakten, Namen, Anspielungen, wieviel Erzählstoff auf knappstem Raum. Auch Trifonows neueste Moskauer Novelle, diesmal Roman genannt, spannt einen Bogen von den fünfziger bis in die siebziger Jahre, mit kurzen Rückgriffen auf Revolutions- und Stalin Zeiten —Jurij Trifonow: Das andere Leben", Roman, aus dem Russischen von Alexander Kaempfe; C. Berteismann Verlag, München, 197 6; 207 S, 24 80 DM.

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Eine Witwe von vierzig Jahren versucht nachzudenken über ihren gestorbenen Mann, es entsteht die Beschreibung eines Verlustes, des Verlustes einer Last und einer Liebe. Diese Olga Wassiljewna muß loswerden, was bis jetzt „ihr Leben" war, loswerden durch Erinnerung. Erst dann könnte Das andere Leben" möglich werden. Wieder also erzählt Trifonow eine Moskauer Privat- und Liebesgeschichte tief unterhalb aller offiziellen sowjetischen Geschichte. Held dieses fast zwanzigjährigen Gefühlsdramas war Sergej oder Serjosha, sein Opfer OJga Wassiljewna: So traditionell 1 sind da Männer- und Frauenrollen verteilt. Auch dieser Sergej ist für Trifonow Leser wie ein guter alter Bekannter, wieder einer dieser unerreichbaren, hamletischen Intellektuellen albern und vergrübelt, vehement unentschieden, sehr liebenswert, doch für alle Liebe zu fern, ein brillanter Versager in allen Lebensbereichejj. Die ersten Jahre nach der Universität hat er in Träumereien und rätselhaftem Unernst verbummelt. Dann, endlich an einem Forschungsinstitut, wirft ef sich mit gleich unheimlichem Uberernst Jn ejae Arbeit über den zaristischen Geheim4lienst kurz vor der Februarrevolution 1917. Die Sache wuchert und wuchert, offenbar ins Unendliche. Sergej wühlt sich in die russische Geschichte, als hinge davon sein Leben ab und nicht bloß seine Karriere, der ohnehin verspätete DoktorriteL Olga Wassiljewna, die mühsame Geschichte ihrer Ehe, diese undurchdringliche Verbindung von Glück und Misere schubweise rekonstruierend, kann zunächst ihren Serjosha und das, was sie ihr Leben" nennt, auf irgendeine endgültige, klärende Weise nicht verstehen. Obwohl doch Trifonow durch ihren Kopf unermüdlich immer neue Details schickt und diese sogar in seiner üblichen Schlachtordnung formiert.

 

Denn natürlich gibt es an Sergejs Institut zielbewußte Kollegen, die ihr Berufsleben mit Kompromissen und der richtigen Konkurrenten- und Vorgesetztenbehandlung ungleich geschickter einrichten als er. Doch Serjosha, immer wenn auch ihm so eine kleine Leiter nach oben hingestellt wird, stößt sofort diese Leiter um. Ihm geht es um keinen Vorteil, nur um die „Sache". Was das für eine Sache ist, kann er auch seiner Frau nicht klarmachen. Kurz vor seinem Tode, endgültig isoliert, verliert er seinen Kopf sogar an spiritistische Studien.

Und natürlich stammt auch dieser Sergej (wie Trifonow selbst) wieder aus einer Altbolschewikenfamilie. Seine Mutter, die mit Sohn, Schwiegertochter und Enkelin zusammenlebt, läuft dort durch die Wohnung wie ein steinerner Gast, ein leibhaftiges Mahnmal der Revolution, eine ausgeglühte, doch in dramatischen Momenten immer noch prinzipientreu aufflammende Persom Ist sie enttäuscht vom Gang der Geschichte seit ihrer Revolution? Sie läßt es sich mindestens nicht anmerken.

 

Wir aber begreifen, daß Trifonow auch diesen Sergej bis gleiche Spannungsfeld zwischen Anpassung und Unnachgiebigkeit, zwischen „realen Sozialismus" und den Ideen der Revolution stellt, das alle seine Moskauer Novellen auflädt, auch und gerade, wenn sie nicht darüber reden. Was Olga Wassiljewna kaum verstehen oder wahrhaben will, macht der Roman mit trauriger Beharrlichkeit klar: daß einer, der sich nicht zeitgemäß anpassen will oder kann, schließlich auch in Moskau lästig, wunderlich, ein Lebenshindernis für seine ganze Umgebung wird.

 

So weit also läuft die Geschichte auf der Linie von Trifonows üblichen, elegischen Beweisgängen. Ein Narr, im schönen und kläglichen Sinn, wer sich vom reformistischen Sog des Moskauer Alltags nicht mittragen läßt. Für Helden ist kein Platz in diesem eher grauen als finsteren Leben. Wer Widerstand leistet, kann auf würdige Weise versteinern, wie Serjoshas Mutter, oder wird an „Herzversagen" sterben, wie Serjosha selbst. Und der Rest: wirklich nur Karriere Spießer, Revisionisten, rückgrat- und perspektivenlos Dahinvegetierende?

 

So schlicht geht die Rechnung nicht auf. Denn zum Rest gehört ja auch die zweite Hauptfigur, Olga Wassiljewna, und die ist rätselhafter, widersprüchlicher als ihr tief zerrissener Serjosha. Zwar, auf den ersten Blick scheint sie nur vertieft in eine aufreibende Ehefrauen Rolle, gelähmt von Liebeshörigkeit, von Eifersuchtswut und Verlassenheitsängsten, die ihr und ihrem Mann immer wieder die Lebensluft abwürgen. Je heftiger sie sich an ihn klammert, desto mürrischer entzieht er sich: das alte, trostlose Spiel, das im sowjetischen Moskau zu laufen scheint wie in irgendeiner bürgerlichen Metropole.

 

Aber diese Olga Wassiljewna (das wäre der erste Widerspruch) sollte doch „eigentlich" eine selbständige Person sein können. Sie arbeitet als Biochemikerin, ihr Berufsleben funktioniert, wie offenbar auch ihr nüchterner, von Logik und Materialismus der Naturwissenschaften geprägter Kopf. Und doch (neuer Widerspruch) hängt diese „eigentlich" angepaßte, „eigentlich" robuste und klare Frau an einem gründlich Unangepaßten, läßt „ihr Leben" ganz von ihm definieren, von seinen Schwierigkeiten und Konfusionen. Genau diese Widersprüche versucht Trifonow gegen Ende hin aufzuheben, ohne doch einen hellen, einen klipp und klaren Schluß zu setzen. Als Gelöste und Erlöste, als eine Emanzipierte, eine Nora der Moskauer siebziger Jahre geht diese Olga Wassiljewna aus ihrer Trauerarbeit nicht hervor. Schließlich war „ihr Leben" mit Serjosha nicht nur Unterwerfung und Sergej nicht nur ein Popanz des Patriarchats. In ihm soll sich ja nach des Autors Willen das Allerbeste der russischen Geschichte repräsentieren, jenes elementare „Nichteinverständnis", dem Sergej selbst in der Geschichte seiner Familie und seines Volkes bis zur Besessenheit und Geistesverwirrung hinterherspürt, dieses Feuer des Anti Konformismus, einer Hoffnung jenseits aller Vernunft, der Utopie. Soll und kann das, jetzt nach seinem Tod, auf den ernüchterten Naturwissenschaftskopf seiner verlassenen Frau übergreifen? Nichts weniger als das möchte Trifonow auf seinen letzten Seiten mit einer wahrhaft mystischen tour de force wahrscheinlich machen.

 

Zunächst läßt er Olga nur die kalte Negativität ihres Verlustes erleben: „Niemand ist bedauerns~dann, in einer Erinnerungsszene, die sehr ScUift und unmerklich in Traumbilder explodiert, geschieht dieser merkwürdig mystische Schub: Vor seinem Tod geschwärmt hat, scheint das „andere Leben" zu werden, das Olga Wassiljewna nun nach seinem Tod beginnen wird. Auf der letzten Seite steigt sie mit einem neuen Mann, einem kränklichen, offenbar verheirateten, den sie nur heimlich trifft, auf einen alten Kirchturm mit Blick über Moskau, wo überall, sagt Trifonow raunend und triumphierend, dieses „andere Leben" auch schon begonnen hat.

 

Die Freunde des Klipp und Klaren werden (und sollen ruhig) enttäuscht sein. Mit Realismus, und gar mit sozialistischem, ist dieses Ende nicht geschrieben. Es sieht eher so aus, als hätte Sergej seine Witwe, ihren hilflos nüchternen Kopf, in einer Art spiritistischer Mund zu Mund Beatmung zugleich von sich erlöst und mit sich erfüllt. Ihre Trauerarbeit ist zu Ende, sie ist frei. Aber ihr „anderes Leben", so müssen wir vermuten, ist den Träumen ihres verstorbenen, wirren und mürrischen Rebellen nähergekommen als „ihr Leben" gemeinsam mit ihm je war.

 

Nach diesem Roman, mit diesem Ende scheint mir Trifonow unter den neueren sowjetischen Autoren erst recht der erstaunlichste. Wie er, sich hineinwühlend in eine heillos private Liebesund Ehegeschichte, aus dieser die ganze Hoffnungslosigkeit und Hoffnung einer geschichtlichen Stunde, des „realen Sozialismus" im heutigen Moskau, zum Leuchten bringt, das ist beispiellos, ja (in jedem Wortsinne) unvergleichlich.

[Von Reinhard Baumgart]

Zur Erinnerung an Ralf Schröder

Ralf Schröder und Juri Trifonow

 

Durch die Vermittlung meines Freundes Ralf Schröder, Herausgeber und Lektor der Werke Juri Trifonows in der DDR, besuchten wir 1980 Juri Trifonow in Moskau. Ralf warnte mich vorher. "Erst wenn Juri Cognac auf den Tisch bringt, hast Du Eindruck auf ihn gemacht."

 

Nach etwa drei Stunden liess Juri Trifonow

Cognac auf den Tisch bringen.

 

Es folgt ein Artikel von

 

Fritz Mierau

 

Ralf Schröders Kollege

 

im DDR–Verlag VOLK&WELT

 

»Roman der Seele,

Roman der Geschichte«?

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 Ralf Schröder

 

[4. November 1927 - 15. April 2001]

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Die Umstände der Lebensarbeit des Russisten Ralf Schröder (1927-2001) erweisen sich mit ihren Aufbrüchen und Abbrüchen in vieler Hinsicht als symptomatisch für den Status eines kritischen Partei-Intellektuellen der DDR: Er fand sich so gebraucht und gefördert wie beargwöhnt und verfolgt.


Vom kommunistischen Elternhaus her gegen den Nationalsozialismus gefeit, war der junge Mann früh empfänglich für das Denksystem und Aktionsprogramm des Leninismus, wie es die Sieger über Hitler nach Deutschland brachten. Als Student der russischen Literatur und Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts wurde er ein Aktivist der ersten Stunde. Der Sonderlehrgang für den slawistischen Nachwuchs an der Humboldt-Universität, den er 1950/51 zum Abschluß seines Studiums besuchte, befugte den 25jährigen zur Lehre, die er  auch 1951 sofort von der Universität Greifswald übertragen bekam.1


Ralf Schröder stand Mitte der fünfziger Jahre im Begriff, weit über die Russistik hinaus in der Öffentlichkeit der DDR eine führende Stellung einzunehmen. Der Weg schien deutlich bereitet: 1947 Beitritt zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 1948 Besuch eines Studentenkurses der Kreisparteischule in Berlin-Kaulsdorf. März 1948 Teilnahme am II. Deutschen Volkskongreß für Einheit und gerechten Frieden. Mai 1951 vom Sonderlehrgang zum I. Deutschen Kulturkongreß nach Leipzig entsandt. 1951-1957 Vorlesungen an den Universitäten Greifswald und Leipzig zur sowjetischen Literatur, parallel Gastvorlesungen an der Zentralen Parteischule der SED, am Institut für Gesellschaftswissenschaften des ZK der SED, auf zentralen Aspirantenseminaren und Vorbereitungslehrgängen für das Auslandsstudium. 1952 Berufung in den wissenschaftlichen Beirat für Slawistik beim Staatssekretariat für Hochschulwesen der DDR. Seit 1955 Mitglied der Parteileitung der Grundorganisation Slawisten/Romanisten an der Universität Leipzig. Zirkelleiter im Parteilehrjahr. 1957 sechswöchiger Aufenthalt in Moskau, wo er seine Studien zu Maxim Gorki vervollständigte, dessen Roman »Foma Gordejew« seine im gleichen Jahr verteidigte Dissertation gewidmet war.


Inzwischen waren größere Arbeiten Schröders über Maxim Gorki auch schon im Druck erschienen, so das monographische Vorwort zum Maxim-Gorki-Lesebuch (drei Auflagen 1953-1957), das Nachwort zu »Foma Gordejew« sowie eine teils kritische Rezension zur Gorki-Ausgabe des Aufbau-Verlags Berlin in der Zeitschrift »Aufbau«. Mit Wolf Düwel, einem Bekannten aus dem Kreis des Sonderlehrgangs, nun Lektor für Slawistik im Aufbau-Verlag, gab es Gespräche über eine Dostojewski-Ausgabe einschließlich der »Dämonen« und über eine Geschichte der sowjetischen Literatur, die zweifellos Georg Lukács verpflichtet gewesen wäre, der im Vorwort zur dritten Auflage seines Buchs »Der russische Realismus in der Weltliteratur« im September 1951 geschrieben hatte:


»Die Sowjetliteratur umfaßt ein ungeheures Gebiet. Um sie wissenschaftlich behandeln zu können, müßte man nicht nur alle ihre wesentlichen Produkte genau kennen, sondern auch deren Entstehungsgeschichte im gesellschaftlichen wie im künstlerischen Sinn, die Wandlungen der kritischen Stellungnahme zu den einzelnen Werken, ihre Wirkungsgeschichte, die äußere und innere Entwicklung der wichtigen Autoren, die intimen Zusammenhänge in den künstlerischen Richtungskämpfen usw.usw.« Dies sei nötig, weil kein Volk »heute die Probleme seiner eigenen literarischen Weiterentwicklung befriedigend lösen« könne, ohne sich mit den Neuerungen der Sowjetliteratur auseinanderzusetzen.2 Es war zu erwarten, daß Ralf Schröder sich im September 1958 auf dem IV. Internationalen Slawistenkongreß in Moskau in diesem Sinne äußern würde.


Zwei Angebote, als verantwortlicher Kulturpolitiker zu arbeiten, lehnte er 1957 mit dem Hinweis auf seine vorwiegend wissenschaftlichen Interessen ab: den Posten eines leitenden Lektors beim Verlag Kultur und Fortschritt, dem Verlag für sowjetische Literatur, und die Dozentenstelle an dem von Alfred Kurella geleiteten Leipziger Institut für Literatur.


Die generelle Überschätzung der politischen Wirksamkeit von Literatur und Literaturgeschichtsschreibung machte Ralf Schröder zu einem für seine Partei gleichermaßen nützlichen und verdächtigen Historiker und Ideologen, zumal er seine geschichtsspekulativen Neigungen mit sozialpädagogischem Ungestüm kundzutun pflegte: Leicht gewann er Kollegen und Studenten zu Proselyten. Solange er sich da an die Normen der sowjetischen Literaturgeschichte hielt, wie sie im September 1953 unter seiner Mitwirkung als »Studienplan Nr. 73 und 73 A« - noch gut stalinistisch - festgelegt worden waren, gab es keine Bedenken. Sobald aber der nun knapp 30jährige nach den Aufständen des 17. Juni 1953 , definitiv nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 mit Doktrin und Praxis seiner Partei in Konflikt kam, wurde sein beredter Einsatz zur Gefahr.


Ralf Schröder geriet in die Überwachungsmaschinerie des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, verlor seine Parteimitgliedschaft und wurde 1958 wegen Bildung einer staatsfeindlichen Gruppe zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, wovon ihm 1964 auf Grund einer allgemeinen Amnestie zwei Jahre in eine Bewährungsfrist umgewandelt wurden: Überwacht seit 1957 und seit 1970 selber verpflichteter Überwacher. Noch sein Verstummen, sein Rückzug aus der Öffentlichkeit nach dem Zusammenbruch des Staatsapparats und nach seiner Rehabilitierung im Jahr 1990 dürfte auf das Schweigegebot in der Verpflichtungserklärung von 1970 zurück-

zuführen sein.


Aus dem obligatorischen Studium des »Kurzen Lehrgangs« der Geschichte der KPdSU (B) kannte Ralf Schröder alle Finessen und Risiken von Fraktions- und Gruppenbildung, taktischen Bündnissen, Exkommunikation und Exekution zu gut, um sich über die Folgen seiner Entscheidungen im Unklaren zu sein. Der von Stalin redigierte und noch mit seinem Bild als vierter Klassiker des Marxismus versehene »Kurze Lehrgang« von 1938 schloß mit dem berüchtigten Kapitel über »Die Liquidierung der Überreste der bucharinschen-trotzkistischen Spione, Schädlinge und Landesverräter«. Und Schröder hatte sogar in der ersten Auflage des Maxim-Gorki-Lesebuchs von 1953 neben seinem Vorwort die Anklagerede des Staatsanwalts der UdSSR, Andrej Wyschinski (1883-1952), gegen die angeblichen Mörder des Dichters dulden müssen: Rykow, Bucharin, Jenukidse und Tomski hätten nach den »Direktiven« des »Oberbanditen Trotzki« den Mord an Maxim Gorki als ein »Element des Sturzes der Sowjetmacht« verübt.


Sehenden Auges begab sich Ralf Schröder in Gefahr, als er 1956 den stalinkritischen Ansatz der sowjetischen Kommunisten um Chrustschow endgültig in einen kaum noch verdeckten protrotzkistischen wendete, mit seinen Genossen in der SED-Grundorganisation Konsequenzen für die konzeptionelle und personelle Führung der SED verlangte und auf einer Parteiversammlung beschließen ließ. Nun zeigte sich die sowjetische Literatur mit dem frühen Ehrenburg, mit Sostschenko, Babel, Pilnjak oder Samjatin als eine wahre Schatzkammer an Argumenten zur Kritik des bürokratischen Führungsstils, des »Kasernenkommunismus« , wozu Schröder noch in seine Vorlesungen – ohne die Namen der Autoren zu nennen – die Erkenntnisse Leo Trotzkis, Ruth Fischers, Isaac Deutschers und Wolfgang Leonhards einführte.


Allerdings hat Schröder seinen Konflikt ursprünglich als einen Kampf zwischen Parteieliten begriffen und ist, als im Untersuchungsverfahren der Staatsverrat-Paragraph 13 des Strafrechtsergänzungsgesetzes vom 11. Dezember 1957 für die Beschreibung seines Falls herangezogen wurde, bemüht gewesen, seine Treue zum Staat DDR darzustellen, zu einem »sauberen Sozialismus«, wie er während der Verhöre einmal sagte, zu einem »inoffiziellen Leninismus«, wie er mit Trotzki hätte sagen können.3


Einen Philologen zu zehn Jahren Zuchthaus zu verurteilen, weil er u.a. die Partei- und Gesellschaftskritik der frühen sowjetischen Literatur auf die frühe DDR anwendete, mußte Ralf Schröder wie das unfreiwillige Eingeständnis argumentativer Unterlegenheit anmuten: Drastischer hätte dieses nicht ausfallen können.


Aus den Aufzeichnungen des Zelleninformators mit dem Decknamen »Edelweiß«, der Schröder von September 1957 bis September 1958 beigegeben war und dessen Funktion ihm natürlich nicht verborgen blieb, ist – bei aller Vorsicht gegenüber derlei Meldungen – manches von seinen Überlegungen und Annahmen während der

Untersuchungshaft zu erfahren. 4


Daß der Prozeß eine Unterbrechung, wenn nicht einen Abbruch seiner Arbeiten bedeutete, war Schröder von vornherein klar, wenn er auch anfangs nur mit einer Gefängnisstrafe von zwei, höchstens fünf Jahren rechnete und überhaupt eine Parteistrafe für ausreichend hielt. Seine Lehrtätigkeit werde zu Ende sein, er werde künftig einen Maulkorb tragen müssen (25. September 1957) oder sogar nach der Haft, auch unter besseren äußeren Umständen zeit seines Lebens ein Gefangener bleiben (7. Mai 1958). Zu erwägen wäre die Emigration nach London (13. Januar 1958) und die Niederschrift eines Buches »Sozialismus – Stalinismus«, das über BBC gesendet werden könnte

(17. Februar 1958).


Woran Schröder besonders lag, war, seine Lehrer aus der Sache herauszuhalten. Das betraf in Berlin Edel Mirowa-Florin, Lehrbeauftragte für sowjetische Literatur an der Humboldt-Universität, die ihn beim slawistischen Sonderlehrgang unterrichtet hatte, Betreuerin seiner Dissertation war und in deren Haus er auch ihren Mann, Peter Florin, einen führenden Außenpolitiker im ZK der SED kennengelernt hatte. Und in Leipzig den Gastprofessor Stepan Kljujew, dem Schröder als Assistent und persönlicher Betreuer von 1955-1957 nahe gekommen war. Hier galt es zu betonen, daß er von beiden zwar in seiner neuen Sicht auf die frühe sowjetische Literatur bestätigt worden sei, daß sie aber von seiner Gruppenbildung nichts gewußt hätten.


Wollte Schröder eine personelle Verbindung in die Sowjetunion damit möglichst unwahrscheinlich machen, so versuchte er, sobald das Verhör auf Staatsverrat gelenkt wurde, die Kontakte in der DDR (zum Aufbau-Verlag, zum Leipziger Kabarett »Pfeffermühle«, zu Erich Loest oder Wolfgang Harich) und die Absprachen mit Warschau, Prag, Belgrad, Budapest, Bukarest, Rom und Paris ins Absurde zu übertreiben und das Ganze ins Lächerliche zu ziehen

(26. November 1957; 17. Januar 1958).


Wovon Ralf Schröder bis zum Schluß, bis zu seinem erzwungenen Canossa-Gang (22. August 1958) überzeugt blieb, war, daß wie seinem Vorbild Leo Trotzki, wie den Opfern der sowjetischen Prozesse zwischen 1936 und 1938, auch ihm einst Gerechtigkeit widerfahren würde (27. September 1957; 17. Oktober 1957). Er habe es für seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit gehalten, »junge Trotzkisten an der Uni heranzubilden« (18. Februar 1958), die marxistische Lehre den neuen Umständen anzupassen und »Marx’ Humanitätstheorie mit der Dostojewskischen« zu verbinden

(21. Februar 1958).


Es verwundert nicht, daß er es nach der Rückkehr in seinen Beruf darauf anlegte, den kritischen Ansatz der fünfziger Jahre als weiterhin, ja zunehmend angemessen vorzutragen. Universitätslehre und akademische Literaturgeschichtsschreibung blieben ihm bis zu seinem Lebensende versagt. Doch als Verlagslektor, der er von 1966-1988 war, als Herausgeber und Essayist setzte er in der DDR alle Bücher offiziell durch, deren Lektüre, Empfehlung und universitäre Verbreitung in seinem Prozeß staatsgefährdend genannt worden waren.


Ein Jahr nach Ralf Schröders Entlassung erschien in den renommierten »Weimarer Beiträgen« ein Vorabdruck aus seiner im Zuchthaus konzipierten und in ersten Fassungen niedergeschriebenen Monographie »Gorkis Erneuerung der Fausttradition: Faust-Modelle im russischen geschichtsphilosophischen Roman«, die dann 1971 als Buch herauskam. Die Abhandlung umriß mit ihren vielen Exkursen Konzept und Programm der kommenden Jahrzehnte. Schröder entwarf das grandiose Bild der Welt des russischen Romans: ins eins erlebt, in eins gesetzt das 19. und das 20. Jahrhundert. Das 19. Jahrhundert Gogols, Dostojewskis und Tolstois.

 

Das 20. Jahrhundert in seinem Aufgang mit Maxim Gorki, Ehrenburg, Olescha, Bulgakow und Tynjanow und in seinem Ausgang mit Trifonow, Tendrjakow, Aitmatow und Okudshawa. »Roman der Seele, Roman der Geschichte« nannte er 1986 eine Zusammenschau, die der Leipziger Reclam-Verlag druckte – Bilanz seiner Editionen und Studien. Die Nähe, die Ralf Schröder zu den geliebten Autoren und ihren Büchern empfand, hat er selbst nicht genauer beschreiben können als mit dem Titel eines auch seit der Zuchthauszeit geplanten Buches, an dem er die letzten Jahre arbeitete - seines »Romans mit der russischen Literatur«. Schröder favorisierte den, wie er schrieb, »historisch lotenden polyphonen Bewußtseinsroman«, den er in der späteren sowjetischen Literatur vor allem bei seinem Freund Juri Trifonow ausgebildet fand: Trifonow entfalte seine modernen »Familiengeschichten« zu einem »analytischen Epochenbild«. »In ihnen werden auch die Grundfragen der Epoche: Wer – wen? Wer – wofür? Wer – mit welchen Mitteln? neu gestellt und beantwortet.« Der »Roman mit der Geschichte« sei Trifonows zentrales Thema – die »Liebesbeziehung der russischen Intelligenz mit der Geschichte, der rätselhaften Geliebten, die weder durch gewaltsamen voluntaristischen Ansturm noch durch idealistische Schwärmerei oder gar durch opportunistische Anpassung

zu erobern ist.«5


Ralf Schröder wurde der bekannteste und beliebteste Russist der DDR. In hunderten von Vorträgen gewann er der Literatur seiner Wahl eine Leserschaft ohnegleichen. Seine Ausgaben gehörten zur begehrtesten Lektüre der Republik und brachten ihm Bewunderung, Einfluß und Dankbarkeit ein. Der Hoyerswerdaer Kunstverein, in dem allein Schröder 1979-1988 zwölf Vorträge hielt, schätzte ihn als einen »Freund und Ermutiger«, der, wie Martin Schmidt schrieb, »uns mehr als ein Fenster zur Welt öffnete«.6 Die Verleger, etwa Jürger Teller von Reclam, konnten nur staunen, was dieser bis zur Provokation »anregende und aufregende, vor lauter neuen Ideen übersprudelnde Entdecker« ständig vorbrachte.7 Leonhard Kossuth, der ihn 1966 zu Kultur und Fortschritt/Volk und Welt geholt hatte, meinte rückblickend, Schröder habe wohl immer schon gewußt, was sein Freund Juri Trifonow »aus seinem Tintenfaß herausholen würde, ehe der überhaupt seinen ›Federkiel‹ eingetunkt hatte«.8 Thomas Reschke sah in Schröder den Meinungsführer9 auf seinem Gebiet und war mit von der Partie, als der einige von der sowjetischen Zensur gestrichene Passagen bei Bulgakow und Trifonow in die Volk-und-Welt-Ausgaben einschmuggelte.10 Und Volker Braun rief den spekulativen Geist unter den DDR-Russisten am Schluß des Textes »Raskolnikow Trotzki Gorbatschow«, seines Abgesangs auf die Sowjetunion, um Hilfe an, als es um den Fortgang des »Romans mit der Geschichte« ging: »...helfen Sie mir, Schröder, den Gedanken zu finden...« Es gebe in diesem »Roman« eben keine durchgehende Handlung, sondern auch freie Stellen; aber an diesen »freien Stellen« kämen die neuen Themen, die neuen Gedanken auf.11


Um diese ständig beargwöhnte Arbeit nicht zu gefährden und sie womöglich abzusichern, hatte sich Ralf Schröder 1970 entschlossen, das Angebot des Ministeriums für Staatssicherheit anzunehmen, als Inoffizieller Mitarbeiter im Verlag Volk und Welt tätig zu sein, und sich auf ein Doppelleben eingelassen. Das Vorgespräch fand im Café Praha statt, Treffs gab es meist in der Konspirativen Wohnung »Anita Haase«, wo er am 6. Mai 1970 die Verpflichtungserklärung unterschrieb: Die Möglichkeiten »freiwilliger Unterstützung« werden »letztlich nach meiner Einschätzung bestimmt«. Im Interesse der Geheimhaltung werde er sich gegebenenfalls mit seinem »zweiten Vornamen Karl« nennen.


Das Ministerium erwartete von »Karl« im Rahmen des allgemeinen Auftrags, auf die »für das Lektorat tätigen freiberuflichen Lektoren, Gutachter, Übersetzer und Herausgeber« zu achten, und speziell die Überwachung des Übersetzers und Redakteurs Thomas Reschke sowie der Lektorin Ingrid Krüger vom Darmstädter Luchterhand-Verlag, die als Verantwortliche für Lizenznahmen übersetzter Literatur häufig in der DDR zu Gast war. Aktenvermerk vom 26. April 1971: »Der IMV ›Karl‹ ist beauftragt, seine persönlichen Verbindungen zu Reschke auszubauen mit dem Ziel, in den Verbindungskreis des Reschke einzudringen, die feindlichen Pläne und Absichten aufzudecken und Beweise strafrechtlich relevanter Handlungen zu erarbeiten.« Thomas Reschke sollte politisch diskreditiert und als ein Störenfried aus dem Verlag gedrängt werden. Glücklicherweise mißlang dieser infame Versuch des Ministeriums, Thomas Reschkes Arbeit zu kriminalisieren.


»Karl« wurde seinerseits selbstverständlich überwacht. Im Verlag zumindest durch die Außenmitarbeiter  Alfred Antkowiak (»Roiber«) und Herbert Krempien (»Jürgen«) und bei seinen Vorträgen von den IMs der Einlader – gelegentlich war das ein und dieselbe Person. Der Führungsoffizier von der HA XX/7/IV, Hauptmann Gütling, zeigte sich nach zehn Jahren Zusammenarbeit und den vielen Treffs in der »Anita Haase« mit »Karl« recht unzufrieden. In einem Bericht, der einleitend die Kombination von »Wiedergutmachung« und »Rückendeckung« als Ambition des IM beschreibt, moniert er am 14. Januar 1980 bei dem »ständig auf Anerkennung orientierten Wissenschaftlertyp« vor allem die Disziplin. Der IM trage ständig eine »Mischung von realem Sozialismus, Trotzkismus, ›demokratischem‹ und ›jugoslawischem‹ Sozialismus« vor, liefere jedoch außer »Berichten über Stimmungen und zu Personen aus dem Lektorat ›Sowjetliteratur‹« im Rahmen der »Wer ist wer«-Aufklärung »kaum operativ auswertbare Informationen«.12


Als kurz nach Ralf Schröders Tod sein Doppelleben öffentlich bekannt wurde, war es Erich Loest, der Leipziger Gefährte aus den fünfziger Jahren und Mitangeklagte im Prozeß von 1957/1958, der sein Unverständnis für so eine Entscheidung in aller Schärfe äußerte. Loest hatte schon 1981 in »Durch die Erde ein Riß« skeptisch von Schröder gesprochen, damals nannte er ihn »Lehmann«.13 Nun warf er ihm vor, »durch zügelloses Geschwafel über Stalinismus und Trotzkismus und die Notwendigkeit Ulbricht abzulösen«, die Verhaftungswelle ausgelöst zu haben, seinen Vernehmern und Richtern zum Munde geredet und sich sieben Jahre nach der Entlassung seinen Peinigern zur Verfügung gestellt zu haben, um Thomas Reschke zu überwachen. »... das verstehe, wer kann. Die Bewußtseinstrübung und -spaltung eines Alkoholikers?«14


Tatsächlich bleibt zu fragen, wie Ralf Schröder die Schicksale seiner Autoren und ihrer Helden mit dem eigenen Schicksal verknüpft sah, wie er sein Doppelleben als Überwachter und Überwacher in einer Diktatur begriff. Arbeitete er als Partisan im eigenen Lager, wie ihn Georg Lukács in seinem Selbstbildnis mit Blick auf die dreißiger Jahre in Moskau gezeichnet hat?15 Mußte er damit leben, wie Werner Mittenzwei sein Lebensfazit formulierte, daß der »gefährliche und irritierende Weg der Erkenntnis« immer auch mit dem Verhängnis verbunden sei, »in Dienst genommen zu werden«?16 Folgte er Alexander Bloks aus Novalis geschöpfter romantischer Geschichtssicht, nach der das Leben in der banal-chronologischen »Kalenderzeit« mit ihren taktischen Zwängen durch ein anderes, eigentliches Leben in der »musikalischen Zeit« gerechtfertigt werde?17


»Wett-Sujet gegen SED-Führung gewonnen, aber dank Anschluß zum Teufel«, heißt es in Schröders Aufzeichnungen zum geplanten »Roman mit der russischen Literatur«. Wobei er immer betonte, daß Teufelspakt nicht Seelenverkauf bedeute. Von der geplanten Ausgabe dieses »Romans« sind neue Aufschlüsse über sein Selbstverständnis zu erwarten.

 

Fritz Mierau, geb. 1934, Slawist; Herausgeber, Essayist

und Übersetzer; lebt in Berlin.

1    Zu Leben und Werk s. die dreiteilige von Willi Beitz und Winfried Schröder herausgegebene Dokumentation: 1 Das schwierige Leben eines bedeutenden Slawisten; 2 Vom Reifen der Alternativen; 3 Ralf Schröder – zu Leben und Werk. Leipzig 2003-2005. Rez. von Werner Röhr, »Es gibt keine endgültigen Zäsuren«. Ein Marxist in der DDR. In: Junge Welt vom 15. April 2004. Vgl. auch Anne Hartmann, Wolfgang Eggeling, Sowjetische Präsenz im kulturellen Leben der SBZ und frühen DDR 1945-1953. Berlin 1998. Zum Sonderlehrgang: Annette Leo, Leben als Balance-Akt. Wolfgang Steinitz: Kommunist, Jude, Wissenschaftler. Berlin 2004.


2    Georg Lukács, Der russische Realismus in der Weltliteratur. Berlin 1952, S. 14.


3    »Der offizielle Leninismus ist vom bürokratischen Epigonentum mit den Stiefelabsätzen zertreten und zerstampft worden. Aber der inoffizielle Leninismus lebt.« In: Leo Trotzki, Gegen den Nationalkommunismus. Berlin 1931, S. 34.


4    »Edelweiß«, In Sachen Schröder. In: BStU. MfS/BV Halle. Ref. XII/Archiv. AU 22/59. Band 12b. Beiakte.


5    Ralf Schröder, Roman der Seele, Roman der Geschichte. Zur ästhetischen Selbstfindung bei Ehrenburg, Bulgakow, Aitmatow, Trifonow, Okudshawa. Leipzig 1986, S. 39, 207.


6    Martin Schmidt am 23. April 2001 für die Sächsische Zeitung, die diese Passage in dem am 27. April veröffentlichten Text »Russische Schriftsteller vertraut gemacht« allerdings herausließ.


7    Jürgen Teller. In: Das Reclam-Buch. Heft 52. Leipzig 1978.


8    Leonhard Kossuth, Volk & Welt. Autobiographisches Zeugnis von einem legendären Verlag. Berlin 2002, S. 23. Es handelt sich um die Übernahme eines Textes von 1990.


9    Vgl. auch Thomas Reschkes Nachruf »Unbeirrt tätig« in: Neues Deutschland vom 21./22. April 2001, S. 8.


10    Thomas Reschke, Bücher haben die Wende von 1989 mit vorbereitet. In: Simone Barck, Siegfried Lokatis (Hg.), Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk & Welt. Berlin 2003, S. 70, 72.


11    Volker Braun, Raskolnikow Trotzki Gorbatschow. In: Sinn und Form 1992, Heft 5, S. 707.


12    BStU. MfS AIM. 9202/91. Teil I/1. Blatt 200, 291.


13    Erich Loest, Durch die Erde ein Riß. Ein Lebenslauf. Hamburg 1981, S. 320, 332.


14    Erich Loest, Der vierte Zensor. Der Roman »Es geht seinen Gang« und die Dunkelmänner. Stuttgart/Leipzig 2003, S. 157-158.


15    Vgl. auch Fritz Mierau, Mein russisches Jahrhundert. Hamburg 2001, S. 233-234.


16    Werner Mittenzwei, Zwielicht. Auf der Suche nach dem Sinn einer vergangenen Zeit. Leipzig 2004, S. 491.


17    Alexander Blok, Die Seele des Schriftstellers; Der Zusammenbruch des Humanismus. In: Ders. Ausgewählte Werke 2 Stücke Reden Essays. Berlin 1978, S. 205-206; 300-302.

 



Die Zeit, die Jurij Trifonow beleuchtet,

ist die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts,

der Ort Moskau. Zeit und Ort werden exploriertim Milieu der Moskauer Intellektuellen,den bewußtesten und kritischsten Erbender Revolution.

 

Da wachsen zwei Jungen heran,

die sich nicht sonderlich mögen, weil

sie einander äußerlich und innerlich so

ähnlich sind: der später mittelmäßig

erfolgreiche SchriftstellerSascha Antipow,

dessen ehrgeiziges Lebenswerk,

 

der Roman Nikiforow-Syndrom, zum Mißerfolg

wird, und der diskret im Hintergrund verblei-

bende Ich-Erzähler, der immer dann auftaucht,

wenn es Zusammenhänge zu erläutern gilt.

Doch diesmal ist der Chronist mehr als nur

ein unbeteiligter Kommentator.

 

Er ist Antipows Schattenbild, ebenso wie

man Antipows Romanhelden Nikiforow,

derebenfalls an einem Roman im Roman

strickt,für die dritte Spiegelung des aufgefächertenSchriftsteller-Ichs

halten könnte.

 

Helen von Ssachno in der

Süddeutschen Zeitung

 

 

ABSCHIED

 

"Viele Jahre sollten vergehen, bis er

begriff, jenes andere, das ihn die drei

Nächte in der Steppe erfüllt hatte, war

das, was keinen Namen hat und was

der Mensch immer sucht.

 

Und am letzten Morgen, als der

Kutschwagen des Kolchosvor-

sitzenden auf dem Hügel hält,

der Kuscher Wolodka vom Bock

herab grinst und irgendwelche

Zeichen macht und der blinde

Jakim stramm wie ein Soldat

dasteht, einen irdenen Topf voll

Honig in den Händen,und als

das Leben zusammenstürzt  

und  ein Schmerz bald im Her-

zen, bald im Bauch nagt und

Natascha neben ihm sitzt und 

ihn lächelnd anblickt, da schreibt

er das letzte Lied der

Urgroßmutter auf:

 

"Mein Pferd ist gesattelt, vom Hof

 geht's hinaus. An die stille Donau

 soll mein Rappe mich tragen.

 Dort werde ich stehen, was ich tun

 soll mich fragen: erhängen oder

 ertränken oder zurückkehren

nach Haus..."

 

ZEIT UND ORT - Verlag Volk&Welt -

ex libris1989 / S. 195-196

 

Juri Trifonows Bücher

 

           Ausgewählte Werke Band 1-4

           Berlin,Volk und Welt, 1983

 

Ungeduld, Berlin: Volk und Welt, 1975

 

           Die Zeit der Ungeduld, DTV, 1983

 

Langer Abschied, Berlin:

Volk und Welt, 1975

 

Das andere Leben, Berlin:

Volk und Welt, 1978

 

Starik, München: C. Bertelsmann, 1979

 

Widerschein des Feuers, Köln: Luchterhand, 1979

 

Der Alte, Berlin: Volk und Welt, 1980

 

Das Haus an der Uferstraße, Berlin: Volk und Welt, 1983

 

Das Verschwinden, Berlin: Volk und Welt, 1989

 

           Zeit und Ort. Das umgestürzte Haus

           Berlin, Volk und Welt, 1989

 

Ein Nachruf

 

Er war in den letzten Phasen seines Lebens das, was er in den ersten Dezennien keineswegs gewesen war: ein Mann zwischen den Fronten. Sein Vater, ein Donkosak, war ein hochverdienter Bolschewikj Organisator der Roten Garde in Petrograd gewesen, wurde aber schließlich ein Opfer stalinistischer Willkür und Raserei.

Jurij Trifonow, der Erzähler und Romancier, genoß zunächst durchaus die blendende Anerennung des Regimes, für die Novelle „Studenten" bekam er den Stalin Preis. Er gehörte 1965 bis 1970 dem Präsidium des Schriftstellerverbandes der RSFSR an, man verhielt sich aber nach und nach zu ihm distanzierter und ratloser. Man krittelte an ihm herum, wenn er das Moskauer Alltagsleben in verschiedenen Werken, so auch in der Novelle „Das Haus an der Moskwa", schilderte. Er sei zu subjektiv. Die allseits geforderte Parteilichkeit war nicht seine Sache). Seine Anschauungen seien nicht "zukunftsträchtig".

 

Er war bis zuletzt weder ein Dissident noch ein Mann duckmäuserischer Anpassung für Geschmack und Wünsche der Machthaber. Er war in einem nicht leicht zu definierenden „Niemandsland" tätig, nur scheinbar zuweilen unentschieden. In Wirklichkeit war er von unbeirrbarer Moral, ein Meister der Andeutungen und Anspielungen, des Atmosphärischen.

 

Zugleich erzog er seine Anhänger zu einer Kunst, die ein Friedrich Nietzsche gerühmt hätte: zur Kunst, zwischen den Zeilen zu lesen. „Das Haus an der Moskwa" wurde von ihm und Jürij Ljubimow dramatisiert, es wurde im Taganka Theater, der Moskauer Avantgarde Bühne, aufgeführt. Für das Kellertheater des Experimentators Oleg Tabakow wollte er, der Autor des „Tausches", des „Stariks" und anderer Arbeiten, ein Stück schreiben. Am letzten Sonnabend ist er in Moskau nach einer Nierenopperation gestorben: Es ist ein schwerer Verlust des literarischen Lebens, bei weitem nicht nur Rußlands

 

DIE ZEIT – 3. April 1981

Juri Trifonows Grab

in Moskau - Kunzewo